Wie beschreibst du die Veränderungen in Rixdorf?
Ich lebe seit 10 Jahren hier. Im Sommer war ich immer in der Türkei und ansonsten war es Winter und vor 10 Jahren war ich noch 10. In dem Alter kommt man jetzt nicht in die Szene rein und hat nichts mit erwachsenen Neuköllnern zu tun, weil die dann rauchen, trinken und auch Cannabis konsumieren, das was alles nicht kinderfreundlich ist. Und man kommt jetzt auch nicht in Kneipen rein, wo sich an einem kalten Ort wie Berlin jetzt das Leben abspielt. Außerdem war ich auch 3 mal die Woche beim Sportverein und die anderen beiden Tage war ich Zuhause und dementsprechend habe ich halt Neukölln, so wie ihr es jetzt meint, nie mitbekommen können. Kennt ihr den Begriff „rixen“? Einfach im Kiez spazieren? Also ich habe nicht immer „gerixt“, ich habe erst seit der Pandemie angefangen zu „rixen“ (lacht).
Die einzigen Veränderungen, die man mitbekommen hat, sind, als ich 10 war, da war nicht so viel „Szene“, also Szene Tourismus, Szene Lokale. Und die Gebäude sind sehr aufgewertet worden. Überall sieht man wie Fassaden renoviert werden und neue Sachen hingebaut werden und man einfach merkt: Diese Wohnung wurde nicht für dich gebaut, diese Wohnung kannst du dir nicht leisten.
„Ich glaub‘ man muss sich nicht an einen Tisch setzen, sondern einsehen, dass man sowieso schon an einem Tisch sitzt.“
Magst du etwas über dich erzählen, wovon andere vielleicht überrascht wären?
Dass ich mir sehr viele Gedanken über bestimmte Themen mache. Das wären, abgesehen vom Sinn des Lebens, sowas wie Weisheiten, Lebensweisheiten.
Magst du eine solche Erkenntnis mit uns teilen?
Ja, dass man in seiner Jugend, vor allem in der Pubertät, schon viel mehr Verantwortung übernehmen muss als es einem von der Gesellschaft erklärt wird. Aber das weiß halt keiner. Und in der Pubertät hat man noch die meiste Freizeit und das meiste Leistungsvermögen, um vielleicht für die Zukunft ein paar Schritte zu machen. Aber man wird stattdessen mit seinen Pubertätsproblemen und seiner Persönlichkeitsfindung allein gelassen und das ist kontraproduktiv.
Welche Frage wurde dir zu selten gestellt?
Wie geht’s dir. Ich hab‘ das Gefühl wir leben in einer Welt, wo (auf dem Land jetzt vielleicht nicht, in der Stadt aber) die Menschen so viel Möglichkeit haben andere Menschen kennenzulernen, sodass man sehr schnell austauschbar, auswechselbar geworden ist und dass man genau so wie bei Tinder einfach nach links gewischt wird, weil da kommt ja wieder jemand und deswegen haben Menschen auch an Wert verloren. Das treibt die Menschen auseinander und ja, dass deine Gefühle keinen oder viele Menschen nicht interessieren. „Wie geht es dir?“ wird mich z.B. nicht mehr gefragt, überhaupt nicht. Es ist sehr selten, dass Menschen mal richtig begegnungsfreundlich aufeinander zugehen.
Ich glaub‘ man muss sich nicht an einen Tisch setzen, sondern einsehen, dass man sowieso schon an einem Tisch sitzt. Man muss jetzt keine 100 Gespräche am Tag führen. Wenn man bei einem Gespräch schon Zuneigung bekommt, dann würde das reichen.
Der Böhmische Platz könnte zu einer Agora umgebaut werden. Und irgendwie noch so ein griechisches Theater wo derjenige, der sich als erstes traut, dann vorne steht und Freiluft Theater macht, ohne mit Obst beworfen zu werden (lacht). Öffentliches Tanzen natürlich auch! Dass dort Plätze sind, wo Menschen tanzen können, einfach wo die Menschen wieder Kultur machen können!
An was denkst du, wenn ich sage „Vielfalt & Diversität“?
An alles. Ich glaube Neukölln ist Vielfalt & Diversität. Hier läuft jetzt nicht nur eine Identität rum, sondern hier laufen wirklich mittlerweile alle Identitäten rum. Ich würde sogar schon sagen, Neukölln ist ein zweites New York geworden. Und das ist eigentlich besser, als wenn nur eine Gruppe von Menschen rumläuft, dann ist es langweilig. Also hier sind Leute, wie Studenten, die kommen aus der Türkei hier her, dann sind New Yorker hier, dann sind Lateinamerikaner hier. Wirklich alles. Und auch verschiedene Lebensstile. Das fängt ja schon mit der Kleidung der Menschen an und auch verschiedene Lokalitäten, Restaurants. Das alles angeboten wird und auch kulturelle Aktivitäten, sodass jede Sorte von Tanz, jede Sorte von Theater angeboten wird und das mit dem Thema Sexualität auch sehr frei umgegangen wird, mit sexbezogenen Theatern und Kunststücken. Das beschreibt Neukölln eigentlich schon gut.
Vielen Dank für deine Geschichte, Sezer!
Fotos: Christopher Quantrell