Erstmals wurden in diesem Jahr vom Statistischen Bundesamt Zahlen über Wohnungslosigkeit in Deutschland erhoben. Die Zahlen sollen als Grundlage für künftiges politisches Handeln dienen. In Berlin wurden fast 26.000 wohnungslose Menschen in Unterkünften registriert. Nach wie vor liegen jedoch keine belastbaren Zahlen für Obdachlose vor, die auf der Straße leben. Tatsache ist jedoch, dass Obdachlosigkeit in Neukölln und in bzw. angrenzend an Rixdorf im Straßenbild täglich wahrnehmbar ist.
Der Träger Gangway arbeitet seit über 30 Jahren mit Menschen, die auf der Straße leben. In Neukölln ist Gangway mit seinem Team „Drop Out“ seit zwei Jahren unterwegs und führt niedrigschwellige Straßensozialarbeit mit wohnungslosen Erwachsenen durch. Um einen Einblick in diese Arbeit, sowie die Problemlage der Betroffenen zu erhalten, haben wir ein Gespräch mit dem Team von Drop Out Neukölln geführt.
Welches sind die Problemlagen, mit denen Ihr bei Eurer Arbeit mit auf der Straße lebenden Menschen konfrontiert werdet?
Das Leben auf der Straße ist für alle Menschen mit erheblichen Belastungen verbunden. Der Tag ist geprägt von Unsicherheiten: Darüber, wo man übernachten kann, wo man sicher ist, wo man an Geld, Essen, und eine hygienische Versorgung bekommt. Dies verursacht Stress und damit oftmals auch psychische Erkrankungen und Sucht. Nicht selten bestanden Problemlagen schon vor der Wohnungslosigkeit, oder waren zum Teil mit Auslöser für die Wohnungslosigkeit. Aber die Frage nach dem Huhn oder dem Ei muss nicht zwingend gestellt werden.
Die meist dringendste Frage ist daher die Frage nach einem Einkommen und einer Krankenversicherung. Ein Einkommen aus Erwerbsarbeit ist oftmals kaum möglich für Menschen, die auf der Straße leben. Die Zugänge zu Sozialleistungen wiederum haben Hürden, sie stehen außerdem nicht allen Menschen zur Verfügung. Es kommt leider oft vor, dass Menschen aus anderen EU-Ländern in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen landen. Wer keinen Arbeitsvertrag nachweisen kann oder nur Teile des vereinbarten Lohns erhalten hat, hat keinen Anspruch auf Sozialleistungen.
Auch Menschen mit Anspruch auf solche Leistungen haben öfters wiederum keine Dokumente (aufgrund von Diebstahl oder Verlust) und es ist mit viel Aufwand verbunden, einen neuen Ausweis zu beschaffen.
Zuständig für Sozialleistungen ist in Berlin zudem nicht zwingend der Bezirk, in dem sich die obdachlose Person aufhält. Es gibt für Menschen ohne festen Wohnsitz die sogenannte „Geburtsdatenregelung“, die die Menschen anhand ihres Geburtsmonats den jeweiligen Bezirken zuordnet. So kann es vorkommen, dass für eine Person, die sich in Rixdorf aufhält, die Zuständigkeit in Reinickendorf liegt.
»Für unsere Arbeit ist es sehr wichtig eine Vertrauensbasis aufzubauen…«
Auch bei den Unterbringungsmöglichkeiten ist es nicht so einfach. Zwar ist jeder Bezirk verpflichtet, Menschen die ungewollt Wohnungslos sind, unterzubringen – egal ob sie Anspruch auf Sozialleistungen haben oder nicht. Leider sind in den sogenannten ASOG- Unterkünften (allgemeines Sicherheits- und Ordnungsrecht) meist Doppel- oder Mehrbettzimmer, was für viele Menschen keine Lösung sein kann. Das führt dazu, dass Menschen dieses Angebot nicht annehmen und auf der Straße bleiben.
Die „Hilfen zur Überwindung besonders schwieriger Lebenslagen“ (67ff SGB XII) sind nur denjenigen Menschen vorbehalten, die Leistungen nach dem Sozialgesetz beziehen oder ein eigenes Einkommen haben. Dies schließt einen großen Teil der auf der Straße Lebenden Menschen aus.
Das betreute Einzel- oder Gruppenwohnen ist für viele sehr attraktiv, aber nicht immer so leicht zu bekommen. Auch hier ist man auf die Sozialen Wohnhilfen der verschiedenen Bezirke angewiesen, die die Finanzierung bewilligen müssen. Dabei gibt es große Unterschiede in den Ermessensentscheidungen der einzelnen sozialen Wohnhilfen. Hinzu kommt, dass es für Menschen mit starken Psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen wenig Möglichkeiten gibt. Viele fliegen schon nach wenigen Tagen oder Wochen wieder aus den Unterkünften, da sie konsumiert haben, oder sie werden Aufgrund ihrer Problemlagen erst gar nicht aufgenommen.
„Housing First“1ist eine gute Idee, aber da es dafür viel zu wenig Wohnungen gibt und die Miete bezahlt werden muss (von eigenem Geld oder durch Transferleistungen), sind auch hier wieder zu viele Menschen ausgeschlossen.
Der Zugang zu Hygiene, Wärme und Ärzten ist ein weiteres großes Themenfeld, was an dieser Stelle aber den Rahmen sprengen würde.
1 „Housing First“ ist ein Konzept gegen Obdachlosigkeit mit Ursprung in den USA. In Berlin startete „Housing First“ als Modellprojekt im Jahr 2019. Wohnungen werden von landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften oder privaten Vermieter*innen zur Verfügung gestellt und an Wohnungslose vermittelt. Sie erhalten flankierend eine langfristige soziale Beratung. Inzwischen wurde das Projekt verstetigt und mit 6,1 Millionen Euro im Doppelhaushalt 2022/2023 ausgestattet. (Quelle: Senatsverwaltung für Integration und Soziales)
In welcher Form werdet Ihr bei der Straßensozialarbeit aktiv? Welche Möglichkeiten stehen Euch zur Verfügung, den Betroffenen zu helfen?
Wir sind auf der Straße und in den Parks unterwegs und sprechen die Menschen an. Wir kommen in Kontakt, lernen sie kennen und bieten ihnen Unterstützung an. Aktiv werden können wir nur auf den Wunsch der Menschen selbst. Wir unterstützen bei der Beschaffung von Ausweisen, bei Behördengängen, Antragstellungen und bei allem möglichen, was sonst noch ansteht. Wir vermitteln an weiterführende Angebote des Berliner Hilfesystems. Beratung, Unterstützung, Vermittlung und Begleitung sind also unsere Kernaufgaben. Für unsere Arbeit ist es sehr wichtig eine Vertrauensbasis aufzubauen und den Betroffenen auf Augenhöhe zu begegnen. Die Verdrängung von Wohnungslosen durch Polizei oder Ordnungsamt führt zu einer Fluktuation der Wohnungslosen, was wiederum ein Hilfsangebot durch Projekte wie unseres stark erschwert.
Im Jahr 2019 hat der Senat Pilotprojekte zu so genannten „Safe Places“ gestartet, aus denen Obdachlose nicht verdrängt werden können und hygienische Rahmenbedingungen geschaffen werden. Auch in Neukölln wurden im August „Tiny Houses“ aufgestellt. Wie steht Ihr zu diesem Projekt?
Der Idee der Safe Places stehen wir prinzipiell sehr positiv gegenüber. Allerdings muss man bei der Umsetzung noch genauer hinschauen. Ein solcher Platz sollte unserer Meinung nach selbstbestimmt geführt werden, ohne große Hürden sein und auch wirklich den Bedürfnissen der obdachlosen Menschen, die ihn nutzen, entsprechen. Die Tiny Houses in Neukölln befinden sich leider nicht an einem geeigneten Ort, der ohnehin schon stark verwahrlost und vermüllt ist. Außerdem ist die Bereitstellung von hygienischen Rahmenbedingungen nicht mit einem Dixi Klo erledigt. Und auch der „Einzug“ in eines der Tiny Houses geht mit Bedingungen einher, die viele Menschen wieder ausschließen. Klar, für einzelne Menschen können solche Projekte helfen, aber sie sollten niemals als Teil der Wohnungslosenhilfe angesehen werden. Für viele Menschen wäre ein gutes Zelt eine ebenso geeignete Hilfe, denn auch ein Tiny House hat keinen Strom, fließendes Wasser oder eine Heizung.
Nun steht wieder die kalte Jahreszeit vor der Tür. Welche Angebote, z.B. der Kältehilfe oder andere Möglichkeiten, Schutz und Wärme zu bekommen, gibt es konkret in Neukölln? Was fehlt?
In Neukölln gibt es verschiedene Notübernachtungsmöglichkeiten: „Evas Obdach“ (für wohnungslose Frauen) und die Notübernachtung Teupitzerstraße bieten auch die Möglichkeit, sich zu duschen und Sozialarbeiter stehen unterstützend und beratend zur Verfügung. Es gibt die Tee- und Wärmestube der Diakonie und einige Kirchen stellen Nachtcafés mit Übernachtungsmöglichkeit, in Rixdorf gibt es zum Beispiel das Nachtcafé St. Richard in der Braunschweiger Straße.
Die Kältehilfe stellt von Anfang November bis Ende März in ganz Berlin verteilt Notübernachtungen zur Verfügung. All diese Maßnahmen sind jedoch Nothilfen und kein adäquates Mittel zur Beseitigung der Obdachlosigkeit.
Was fehlt ist sehr vieles. Für die Menge an Obdachlosen Menschen in Neukölln gibt es viel zu wenig Angebote. Von Tagesaufenthalten, Übernachtungsangeboten, ärztlicher oder hygienischer Versorgung bis hin zu niedrigschwelligen Angeboten fehlt es an allen Ecken.
Welche Möglichkeiten gibt es für Einzelpersonen, Wohnungs- und Obdachlose zu unterstützen? Welchen Umgang würden sich die Betroffenen selbst wünschen?
Obdachlose Menschen haben häufig komplexe Problemlagen und bedürfen in der Regel professioneller Hilfe. Aber allein ein Verweis auf eine Beratungsstelle kann helfen: z.B. die Zentrale Beratungsstelle für Wohnungslose in der Levetzowstr. 12a, Tel. (030) 390 47 40
Eine sofortige Hilfe ist notwendig, wenn obdachlose Menschen akute gesundheitliche Probleme haben. Dann sollte natürlich ein Krankenwagen gerufen werden. Im Winter kann man auch das Kältehilfetelefon (030) 810 560 425 anrufen, dann wird ein Wärmebus geschickt, der die betroffene Person zu einer Notübernachtung bringt.
Vielen Dank, dass Ihr Euch für dieses Gespräch die Zeit genommen habt!
Mehr Informationen über die Arbeit des Neuköllner Teams von „Drop out“ / Gangway findet ihr hier. Einen Leitfaden mit Antworten zum Umgang mit obdachlosen Menschen und wie ihr helfen könnt, findet ihr unter diesem Link.
Dieses Interview ist in einer gekürzten Fassung in der zweiten Ausgabe der Kiezzeitung „X“ erschienen. Die gesamte Ausgabe zum Thema „Solidarität im Kiez“ kann hier nachgelesen werden.